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Rainer Winkel UNTERRICHTSSTÖRUNGEN UND DISZIPLINSCHWIERIGKEITEN I. EINLEITUNG ODER: "DIE LEIDEN UND FREUDEN EINES SCHULMEISTERS" "Peter Käser heiße ich, ein Schulmeister bin ich, und im Bette lag ich trübselig, nämlich den 31. Juli 1836." Mit diesen Worten beginnt Jeremias Gotthelf seine "Leiden und Freuden eines Schulmeisters", diese seltsame Mischung aus Tagebuch, Roman, Erlebnisbericht und pädagogischem Essay. Warum trübselig? Warum im Bette liegend? Noch dazu an einem schönen Sommertag? Nun, den Schulmeister Köser drücken schwere Sorgen: Sein kümmerliches Gehalt reicht vorne und hinten nicht; das neue Schulgesetz vom Frühjahr 1836 bestimmte, daß sich alle amtierenden Lehrer einem Examen zu unterziehen hätten und - insofern sie bestünden - mit einem Jahressalär von 150 Franken fest angestellt würden, jedoch: unser Schulmeister war gerade durchgefallen; und außerdem kam und kommt er mit seiner Klasse, die damals noch eine ganze Schule war, nicht zu Rande: Obwohl er die schlimmsten seiner Schüler gelegentlich durchwalkte, ansonsten aber sich wie ein gutmütiger und liebevoller Lehrer verhielt, so war doch, "je mehr die Kinder sich mehrten, desto weniger Stille und Ruhe in der Schule". Nicht, daß die Schüler ungehorsam gewesen wären, aber sie benahmen sich eben nur dann anständig, wenn er es ihnen ausdrücklich befahl. Drehte er ihnen jedoch den Rücken zu, herrschten Tohuwabohu und Unaufmerksamkeit, wurde geschwätzt, geneckt, geschlagen, gestört. Was machte nun ein Lehrer im 183sten Jahrzehnt, wenn ihn Unterrichtsstörungen und Disziplinschwierigkeiten"plagten? Nun, er ging - zum Pfarrer. So auch Peter Käser, der sich nicht scheute, dem Geistlichen seine Sorgen und Nöte zu bekennen. Und fast scheint der Pfarrer ein ganzes Jahrhundert empirischer Forschung vorweggenommen zu haben. Hören wir, was er vermutet, rät und empfiehlt, freilich: nachdem er den Lehrer zusätzlich im Unterricht beobachtet hat: "Die meisten Lehrer haben den gleichen Fehler", so beginnt der Pfarrer erst einmal tröstend, fährt dann aber fort: "Wenn diese sehen, so hören sie nicht, wenn sie hören, so sehen sie nicht, und wenn sie selbst reden, so können sie weder sehen noch hören. Sie können nur einer Tätigkeit mit Bewußtsein sich hingeben." Und dann erläutert der Gottesmann dem staunenden Pädagogen, worin die Folgen dieser Einschränkung liegen - wir würden heute von "selektiver Wahrnehmung" sprechen. Just deshalb nämlich entstehen jene Disziplinschwierigkeiten, die dem Lehrer so zu schaffen machen. Was also tun? Der Pfarrer setzt zu einer langen Rede an und meint: Der Lehrer "muß zu gleicher Zeit sprechen, sehen, hören, lernen"; er "muß mit seiner Seele allgegenwärtig sein"; die Schüler müssen den Eindruck haben, "daß der Lehrer alles wahrzunehmen imstande sei, daß er gar keinen Rücken habe, hinter dem sie Unziemliches treiben können ..." Allgegenwärtigkeit lautete (1836) die ganz und gar profan gemeinte Therapie. Exakt 134 Jahre später steht ein anderer Schullehrer vor den Trümmern seiner Illusionen und Bemühungen. Im Schuljahr 1969/1970 weiß ein 25jähriger Hauptschullehrer nicht mehr ein noch aus: Die Schüler(innen) seines 9. Schuljahres scheinen alles zu wollen: sie provozieren und drangsalieren, sie machen Remmidemmi und Bambule (so hieß das damals), hecken Streiche aus und "kochen" es besonders den Fachlehrern - nur Vernünftiges vernünftig lernen, das wollen sie offensichtlich nicht, so jedenfalls (d.h. in der Sprache der Zeit: repressionsarm und emanzipatorisch) nicht. Was machte nun ein Lehrer im 197sten Jahrzehnt, wenn ihn "Unterrichtsstörungen und Disziplinschwierigkeiten" plagten? Nun, er ging - zu einem Professor (wenn schon nicht für Pädagogik, dann wenigstens für Psychologie, am besten für beides). So machte ich mich damals auf zur Ruhr-Universität Bovchum, studierte Verzeichnisse und Anschläge, und irgendwie stand ich plötzlich vor der Türe eines Ordinarius: Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie. Das klang gut, versprach viel und ermunterte (m)ein Klopfen. Freimütig bekannte ich meine Sorgen und Nöte, meine Schwierigkeiten und Ratlosigkeiten. Und man kann sich vielleicht meine Verblüffung vorstellen, als der Professor nach aufmerksamem Zuhören etwa wie folgt anhub: "Ich war kürzlich zu einem Forschungsaufenthalt in den USA" (das imponierte) "und habe sogar dort drüben viele ähnliche 'lamentations' (er sagte wirklich: lamentations, Klagen also) gehört" (das tröstete) "und kann Ihnen neueste Forschungen eines Detroiter Kollegen präsentieren" (das schien die Lösung): Discipline and group management in classrooms, las ich auf dem hingereichten Buchumschlag. Und den Autor: Jacob S. Kounin. Ein echtes Déjà-vu- oder Déjà-entendu noch genauer: Déjà-lu-Erlebnis hatte ich, als der Professor erläuterte: "Kounin hat den sog. ripple-effect, also den Wellen-Effekt entdeckt. Als er nämlich während einer Vorlesung in den hinteren Reihen einen Zeitung lesenden Studenten erblickte und diesen sofort, eindeutig und scharf maßregelte, gab dieser nicht nur augenblicklich seine Nebenbeschäftigung auf, sondern auch durch die übrigen Reihen schien quasi ein Ruck zu gehen: Das Geflüster verstummte, Träumereien wurden beendet, Aufmerksamkeit war wieder da. Und warum? Kounin nennt es whithitness, was Sie, junger Mann, lernen müssen: Allgegenwärtigkeit. Es bestehen - das haben Kounins Videoaufnahmen eindeutig gezeigt - signifikante positive Korrelationen zwischen den berühmten 'Augen im Hinterkopf des Lehrers' und den disziplinierten Verhaltensweisen der Schüler ..." Allgegenwärtigkeit lautete (auch 1970) die ganz und gar profan gemeinte Therapie. Natürlich habe ich mir dieses Buch sogleich besorgt, es in einem Atemzug gelesen und - eher mich und meine Schlümpfe im 9. Schuljahr ertragen als den Verlockungen der "Technik der Klassenführung" (wie die deutsche Übersetzung sechs Jahr später hieß) nachgegeben. Da wollte ich lieber mit Peter Käser oder Lehrer Böckelmann verglichen werden als mir "Techniken des Lehrerverhaltens" anzutrainieren, "Lehrer-Schüler-Konferenzen" (im Stil von "Gib-mir-dein-feed-back-dann-sag-ich-dir-wie-du-auf-mich-gerade-wirkst") zu veranstalten, um schließlich auf dem Niveau von "Unterrichtsrezepten" zu landen. Auf Erziehung konnte, wollte und durfte ich nicht verzichten. Und weil so viele damals Pädagogik mit Training, Therapie und Television verwechselten, haben wir uns heute mit den Antipädagogen auseinanderzusetzen.
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