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Leseprobe aus
PÄD  Forum: unterrichten erziehen   
Heft 2 vom März/April 2003, S. 69.

 VOM MESSEN UND WIEGEN

 


Oskar Seitz, Nürnberg / Rainer Winkel, Berlin

Gezählt - gewogen - geteilt

 

Ziffernnoten sind keine Erfindung der Pädagogik, sondern ein Mittel der Politik.

Dies heißt nicht, dass man, etwa als Lehrperson, Leistungen von Schülern nicht beurteilen sollte, nicht gute ("Hinreißender Gedichtvortrag! ... ") und schlechte ("Bei diesem Nistkasten fehlt das Einflugloch ... ") Leistungen feststellen dürfte. Es kommt auf die Art der Rückmeldung an.

Ziffernnoten sind denkbar schlechte Mittel der Rückmeldung: unspezifisch, unpräzise, unzuverlässig, unpädagogisch. Man sollte ihnen dies nicht vorwerfen, dafür sind sie ja auch nicht gemacht. Als Instrument der Selektion dienen sie durchaus ihrem Zweck - und schlagen dabei so manche Alternative aus dem Feld.

Um selektieren zu können, muss man vergleichen, um Leistungen vergleichen zu können, muss man messen. Um "gerecht" zu vergleichen (d. h. nur, der wirklich Beste soll gefunden werden), muss man spezifische Bedingungen und Formen der Leistungsmessung schaffen. Es liegt die Suche nach einem aussagekräftigen und doch einfach zu handhabenden, objektiven oder auch nur scheinbar objektiven Kriterium der Leistungsbeurteilung nahe. Die Ziffer erfüllt solche Ansprüche: Sie ignoriert Inhalte und Besonderheiten, sie zeigt auf einen Blick den groben Rang des Schülers in der Leistungsskala der Klasse an, es lassen sich mit ihr - ungeachtet allerhand messtheoretischer Einwände (Rangskalenniveau) und Detaildiskussionen über Bonus und Malus - Durchschnitte zwischen den unterschiedlichsten Leistungen und den verschiedensten Schülern berechnen. Zuweisungen und Berechtigungen können so sehr bequem über Noten verteilt werden.

Die Bedingungen, unter denen Leistungen der Kinder in der heutigen Schule erbracht werden, die extreme Orientierung von Inhalten, Methoden und anderen Aspekten der Schule am Kriterium der Leistungsoptimierung, die Vereinseitigung der Leistungsforderungen in bezug auf im wesentlichen kognitive Ansprüche, der enorme Druck, der über Leistungsvergleiche mit den anderen auf unsere Kinder ausgeübt wird, verhindern eine umfassende Leistungsförderung, würgen die Entwicklung von Leistungsfähigkeit in vielen Fällen ab und minimieren die natürlich gegebene Leistungsbereitschaft der Kinder.

- Noten beherrschen den Schulalltag bis hin zur Vergiftung des Schullebens (abfragen, vorbereiten,      zittern, abschreiben etc.),

- schlechte Noten infizieren die sozialen Beziehungen in Klasse, Schule und Elternhaus,

- "Proben" werden zeitintensiv vorbereitet, durchgeführt und "verbessert" (Was könnte man in dieser      Zeit alles lernen!),

- sie markieren "schicksalhafte" Ereignisse, existentialistisch gesprochen: Grenzsituationen im Verlauf      eines Schuljahres,

- Noten verschleiern den Blick auf die Sache, bilden damit Hindernisse und Sperren im Lernprozess,

- Noten verhindern eine Kultur der Selbstbeurteilung,

- Noten beginnen schleichend das Selbstbild des Schülers (nicht nur sein Leistungsselbstbild) zu prägen,     bis hin zu den tragischen Ereignissen in der Zeit um die Zeugnisausgabe,

- Noten verderben den Charakter.

Dass nun intensiver nach Alternativen der herkömmlichen Ziffernbewertung (Berichte, Feedbackverfahren, Portfolios etc.) gesucht wird, zeigt uns, dass

1. die individuelle Leistung des Kindes wichtiger genommen wird,

2. diese Leistung des Kindes als Ausdruck seines Wertes, seiner Würde, Anerkennung findet,

3. die positive Seite der Leistung (die "Stärke" des Kindes) betont wird,

4. Bewertung sich auf ein breiteres Spektrum von Leistungsaspekten beziehen soll,

5. nicht nur punktuell erhobene Leistungsprodukte zählen sollen,

6. andere Unterrichtsforme häufiger realisiert werden, in denen eine einfache Ziffernbenotung schwierig
      oder dysfunktional ist (etwa Freiarbeit).

Wenn man bestimmte Schülerleistungen auf einer sechswertigen Skala standardisieren (Stasix), eine breite Stichprobe ziehen und die Ergebnisse eichen, Leistungsdaten von Schülern danach ermitteln und einstufen würde, dann wären Noten das Ergebnis eines ordentlichen Testverfahrens. Die breitere Grundlage, die fehlerreduzierte (aber nicht fehlerfreie) Zuordnung zu den jeweiligen Rängen, damit die "Genauigkeit" der Messung, bedeuten jedoch keineswegs einen pädagogischen Fortschritt der Leistungsbewertung, lediglich einen diagnostischen Fortschritt der Notengebung, also eine Verschlimmbesserung der Methode, deren Zweck derselbe bleibt.

In diesem messungsfixierten Denken finden wir die Nähe der Problematik unserer Zensurenpraxis zu nationalen und internationalen Vergleichsverfahren von Schüler- (oder Lehrer-, oder x-) Leistungen.

Wird der Einsatz national gestreuter Testverfahren forciert, sind generell zwei Zwecke denkbar:

1) ein zuverlässiger(er) Vergleich, um politisch effektiver schalten und walten zu können, die Konkurrenz       zu nutzen, einen höheren nationalen Profit zu erreichen,

2) die Förderung von Schülern, Lehrern, Schulen, von Bildung.

Diese Zwecke schließen sich nicht aus.

In der Verfolgung dieser Zwecke (wir unterstellen beide), ist heute eine gewisse Hysterie feststellbar: Evaluation wird in Quantität und Qualität zu einer zunehmenden Belastung für Schulen und Menschen, etabliert sich selbst als Zweck schulischer Anstrengungen.

Sogenannte Qualitäts-Kriterien bilden ihre Grundlage. Welche? Wer setzt sie denn? Wie sind sie legitimiert? Pädagogische Kriterien (der Kriterien) verkümmern: Lob des Fehlers, Lob der Langsamkeit, Lob des Nebenherlernens etc. Durchschnitt, Gleichheit, Rangskalen dominieren, Unterschiede und individuelle Anstrengungen werden nicht als selbstverständliche Voraussetzung der pädagogischen Arbeit, der Förderung von Kindern, genommen, sondern als Ranking-Anlass, d. h. als Voraussetzung der Selektion gehandhabt. Auch eine Art der Vorbereitung auf das Leben.

Wenn wir in unserem Lande auch dazu kommen, Leistungsergebnisse von Schulen der Offentlichkeit zu präsentieren, erhöht dies zwar die Auflage verschiedener Print-Medien und den Umsatz der anderen, aber nicht die Qualität unserer Schulen. Die pädagogische.