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"Moment mal"

Zwei Leseproben aus "Moment mal"

 

Das erste "Moment mal":

"Polarisation der Aufmerksamkeit"

Längst ist jener Schüler, jene Schülerin keine Karikatur mehr, sondern Realität (ob nun die Ausnahme oder die Regel): Wie er, wie sie den obligaten Lückentext widerwillig-lustlos ausfüllt, dabei zum Takt der Walkman-Rhythmen Kaugummi kaut, den Blick zwischen Fenster und Rock-watch hin- und herschweifen läßt und ab und zu gähnend-gelangweilt oder auch dumpf-aggressiv "so'n Krampf-ey" in die Klasse ruft.

"Tollhaus Schule" hat Der Spiegel (in der Nr. 15/1988) seine Titelgeschichte genannt. Und ich habe keine Sekunde gezögert und dem recherchierenden Redakteur zu Protokoll gegeben: "Solche Schulen gehören - egal wie sie sich nennen - abgeschafft!" Als Freizeit-Center oder Selektionsfabriken sind sie zu teuer, sind sie überflüssig und von jedem besseren Aquadrom oder Telekommunikationssystem zu ersetzen.

Schule - aber da hörte Der Spiegel schon nicht mehr hin -, Schule kommt vom griechischen s'cholé, und das war die Bank am Rande der Arena von Athen. Auf ihr dachte man nach, dort überlegte man neu, da konzentrierte man seine Kräfte, beruhigte die Unruhe und bereitete sich vor - manchmal allein, dann wieder mit anderen und in der Regel unter sachkundiger Hilfe (zur Selbsthilfe). Schulen, die das nicht mehr ermöglichen, können noch so viel differenzieren, curricularisieren, evaluieren und kustodieren, sie sind doch nur öde Aufbewahrungsanstalten oder nimmermüde Sortiermaschinen. Umgekehrt: Schulen, die nüchternes Denken und angenehme Freundlichkeit ermöglichen, sind heute wichtiger denn je - heute, das heißt: Im Schnitt werden die Fernsehgeräte 213 Minuten lang eingeschaltet sein, und ein 8- bzw. 13jähriges Kind wird 81 Minuten lang bewegliche Bilder verfolgt haben. (Wenn es mit 18 Jahren die Schule verläßt, hat es etwa 15000 Stunden Unterricht über sich ergehen lassen, aber 16000 Stunden ferngesehen). In den auf ihren Ursprung sich besinnenden Schulen kann man sich gerade nichts "reinziehen", kein "Programm wechseln" oder, Cola-Dosen nukcelnd, hin und her hecheln, wohl aber: die Wirklichkeit begreifen, so wie sie ist, und ahnen, wie sie werden könnte.

Nach einem anstrengenden Besuch in der Krefelder Montessori-Schule bitten mich meine Studenten, im "Meditationsraum" ausruhen zu dürfen, ein Raum, der nichts weiter bietet als die Gelegenheit, auf einem halbkreisförmigen Podest wie auf einer langen Bank zu sitzen und auszuruhen. Schweigend bleiben wir eine geraume Zeit lang beieinander. Draußen, am Bus, sagt der ansonsten etwas hektisch wirkende Mario: "Ich glaube, ich weiß jetzt, was Maria Montessori unter der 'Polarisation der Aufmerksamkeit' verstanden hat. "

Lernen als ein zielgerichtetes, ein ruhiges, ein die Aufmerksamkeit polarisierendes Handeln ist keine Illusion, wohl aber eine reformpädagogische Vision, die realisiert werden kann - mal dort, mal hier. Der während des 3. Reiches sich nicht gerade als pädagogischer Widerstandskämpfer hervorgetan habende und nicht zuletzt deshalb häufig verketzerte, aber selten gelesene und noch seltener verwirklichte Peter Petersen warb um "Schulen des Schweigens und der Stille"; die Magazine berichten über "Tollhäuser". Warum wohl? - Wenn es um Schulen geht, haben die Gazetten allemal das Vordergründige gebracht, ihre Redakteure (wohl auf die Schulhöfe, aber) nicht in die ruhigen Räume geschickt und deshalb selten gute Noten verdient ... Moment mal! - Gute Noten? Noten? Da fällt mir ein ...

    

Und noch ein "Moment mal":

Heute: Kevin, 13/14 Jahre, aus Berlin-Kreuzberg

Samstag, am 1. Mai 2004, früher Abend, Skalitzer Straße, nahe dem Schlesischen Tor, mitten in Berlin-Kreuzberg. Wie im letzten Jahr haben wir vereinbart, straßenweise zu agieren: dasein, hinsehen, mitreden, aushandeln ... Wir, das sind einige Pädagogen und Kirchenleute, die es leid sind, jedes Jahr die gleichen Fernsehbilder anschauen zu müssen, sondern die mithelfen wollen, dass die 1. Mai-Krawalle so gewaltarm wie möglich ablaufen. Jeder Stein, der nicht geschleudert und jedes Auto, das nicht angezündet wird, jede Faust, die nicht zuschlägt und jeder Fuß, der nicht tritt, ist ein Erfolg - so unsere Legitimation.

Nachdem es tagsüber ziemlich ruhig geblieben war, offensichtlich wegen der Feierlichkeiten zur EU-Osterweiterung, spüre ich jetzt, gegen 20 Uhr, eine aufkommende Unruhe, Erregung, Spannung. Zieht nicht doch noch das gefürchtete Gewitter auf? Ich beobachte einen 13- oder 14-jährigen schmächtigen Jungen, der Papierkörbe aus ihren Halterungen zu reißen und den Inhalt anzuzünden versucht, wobei aus dem handlangen Feuerzeug eine gefährlich lange Flamme schießt, wann immer das Bürschchen seine "Waffe" anknipst. Polizeisirenen sind in der Ferne zu hören; an den Fenstern hängen Zuschauer herum und etliche rufen aufmunternde Worte herunter; vor allem junge und alkoholisierte Männer fallen mir auf, American T-Shirts tragend, aber anti-amerikanische Parolen grölend. Ich gehe auf mein Bürschchen zu und frage ihn, ohne lange zu fackeln:

 "Geh' ste mit mir 'n Döner essen oder soll ich dir die Ohren lang ziehen?

"Zwei Glupschaugen starren mich an und zwei schrecklich abstehende Ohren zittern vor Wachsamkeit.

"Also, wat is?", setze ich energisch nach, "Döner-essen oder Ohren-lang ziehen?"

Das Kerlchen entscheidet sich für den ersten Vorschlag. Und ich weiß, wo man auch jetzt noch einen Döner bekommt.

Kurz darauf kommen wir ins Gespräch, über dies und das - auch über Papierkörbe-rausreißen und Feuer-legen. Sein häufigster Beitrag lautet "Wieso?". Wieso ist das verboten? Wieso ist das gefährlich? Wieso soll man nicht mal zuschlagen? Wir reden, streiten, begründen, rechtfertigen und allmählich wird eine gemeinsame Verabredung sichtbar: Du reißt keine Papierkörbe mehr raus und ich bleibe cool und lass' die Polente aus dem Spiel! Und während mein Früchtchen "den zweten Döner vadrückt", gehen mir drei Fragen durch den Kopf:

Hat je ein Erwachsener mit diesem Jungen über Regeln und Gesetze, über Gewalt und ihre Folgen, über Einzelrechte und Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft gesprochen? Jemals?

Wo sind die Väter dieser verwahrlosenden Kids - Väter, die sie in diese Welt gesetzt und schnellstmöglich verlassen haben? Und schließlich:

Was soll, was kann, was wird aus diesem sympathischen Rabauki werden? Er ist einer von jenen rund 4000 hartnäckigen Schulschwänzern in Berlin, lebt von Sozialhilfe, mal bei der Mutter, mal bei deren Schwester ... Welche Biografie wird dieser kleine Nomade sich zurechtbasteln - ohne Schulabschluss, Familie, eine Gemeinde, einen Verein, einen Beruf?

Auf die Innenflächen seiner Hände hat mein Gegenüber mit einem Filzstift zwei nicht ganz korrekte Hakenkreuze gemalt. Wer Hitler war, weiß er nicht. Und vom Nationalsozialismus hat er keine Ahnung. "Aber so wat is echt geil!", schreit er mir plötzlich ins Gesicht. "Nackt rumlofen interessiert keinen Schwanz mehr. Aber so wat hier zeigen, dat is geil! "

Mich würde nicht wundern, wenn fleißige Jugendforscher demnächst wieder neonazistische Tendenzen, jetzt sogar unter Kindern, ausfindig machen, anstatt über die Nicht­Erziehung der Erwachsenen zu forschen. Sie, die Erwachsenen, sind oft nicht da; sie sehen (nicht hin, sondern) weg; sie reden nicht mehr mit den Kindern (auch nicht mit den eigenen) und handeln keine Verbindlichkeiten aus (schon gar keine Regeln). Rousseau hat in seinem grandiosen Erziehungsroman "Emile" (von 1762) die zentrale pädagogische Aufgabe wie folgt formuliert: "Wenn man Kindern etwas beibringen will, muss man viel Zeit verlieren, um desto mehr zu gewinnen."

Erziehung heißt nun mal: Inne-halten und Halt-geben. Weil aber immer mehr Erwachsene keine Zeit verlieren wollen, sind sie arm dran und können keinen Halt mehr denen geben, die so dringend und nötig Halt benötigen. Wenn das eine Gesellschaft nicht mehr begreift, betreibt sie ihre eigene Zerstörung - Agenda hin, Agenda her. Das, was zuallererst getan werden muss (agendum est), lautet: Wir müssen wieder erziehen - und dann besser unterrichten sowie umfassender bilden. Zu allen anderen "Reformen" gibt es Alternativen, zur Erziehung aber gibt es nichts außer - Erziehung.

"Ich heiß' übrigens Kevin", sagt mein Dönervertilger zum Abschied, grinst, wackelt mit den Ohren und flitzt davon.

Ob unser Gespräch etwas genützt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Kevin eine gute Stunde lang weder Papierkörbe aus den Halterungen gerissen noch Feuer gelegt hat, in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2004 nicht hungrig zu Bett gehen musste und seitdem weiß, dass "Adolf" (mit f, und nicht wie sein Opa mit ph geschrieben wird) ein schlimmer Verbrecher war. Und ich habe, durch Kevin, neuerlich erfahren, dass man als Erwachsener in jedem Kind einen Tom Sawyer oder Emil Tischbein, eine Becky Thatcher oder Pippi Langstrumpf sehen muss, wenn man erziehen will. Denn vor aller Erziehung steht eine Beziehung zu diesem konkreten Kind. Eine gute Stunde Gewissheit und eine wieder gewonnene Erfahrung ...

Apropos Erfahrung ... Lernen durch Erfahrung ... Da fällt mir ein ...